3.1 disembodied voice

disembodied voice ist kein musikalisches Werk, sondern ein Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule der Künste, das interdisziplinär zwischen elektronischer Musik und Schauspiel angesiedelt ist. Ich möchte es dennoch in meine Beispiele aufnehmen, da es viele Berührungspunkte mit den, von mir zuvor, beschriebenen Themenkomplexen gibt.
Das Projekt disembodied voice (Stimme/Körper/Technik) untersuchte Phänomene der technischen Manipulation der Stimme und deren Nutzbarmachung für das Theater. In einem Experimentierzeitraum von 16 Monaten wurde das Potential der elektroakustischen Transformation der Stimme in Echtzeit (Live-Elektronik) und der dreidimensionalen Klangprojektion mit Ambisonics für die praktische Anwendung im Theater systematisch erforscht, am Beispiel einer Modellinszenierung exemplifiziert und die Ergebnisse in der Reihe subTexte veröffentlicht.
Das Team ging davon aus, dass sich die Bedingungen und das Selbstverständnis von Stimme als einem performativen Element durch moderne Technologien und Medien für ein Theater im 21. Jahrhundert grundlegend ändern und eine neue Auseinandersetzung erfordern. Mit der interdisziplinären Vernetzung von Theaterwissenschaft, Soundtechnologie und Theaterpraxis möchte das Forschungsvorhaben dazu einen wesentlichen Beitrag leisten, indem Techniken und Tools (Soft- und Hardware) neu- und weiterentwickelt und ihre Einsatzmöglichkeiten und Wirksamkeit in Bezug auf Akteur, Zuschauer und Theaterraum evaluiert werden.
Die textliche Grundlage bildete Elfriede Jelinks Rede Im Abseits, die sie anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2004 an sie schrieb.
In der ersten Proben- und Experimentierphase mit Schauspielern und dem Team des disembodied voice Projektes vom 3. bis 5. Januar 2012 konnte ich in der roten Fabrik in Zürich interessante Eindrücke über das Forschungsprojekt gewinnen. Zwar erlebt man sehr häufig den Einsatz von Mikrophonen im Schauspiel, immer wieder erscheint dieser allerdings eher willkürlich. Daher denke ich, ist der Ansatz elektroakustische Transformationen der Stimme für die praktische Anwendung im Theater zu erforschen sehr nötig und spannend. In der zeitgenössischen Musik haben schließlich neue technische Möglichkeiten bereits seit langer Zeit Einzug erhalten in die Arbeit der Künstler. Gerade in der Neu- beziehungsweise Umgestaltung von Räumen mit elektroakustischen Mitteln liegen große Möglichkeiten. Dafür wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Wiedergabesysteme und Spatialisierungstools wie zum Beispiel Ambisonics, Wellenfeldsynthese oder Vector Based Panning entwickelt.
Im Rahmen der Workshops haben wir mit mehreren Schauspielern eine Vielzahl von Spatialisierungsmöglichkeiten und elektronischen Umformungen, wie verschiedenen Reverbs, Loops, verzögerter Wiedergabe oder Zerstückelung des gesprochenen Textes experimentiert.

disembodied voice-Probenfoto2 Mundlautsprecher
Probenfoto | Mundlautsprecher (41)

Dabei und auch in der Modellinszenierung habe ich unter anderem auch einen Mundlautsprecher eingesetzt. Die Ausgangsüberlegung dazu war, dass bei der Arbeit mit akustischen und künstlichen Schallquellen die Balance zwischen akustischem (Instrumenten)klang und künstlichem (Lautsprecher)klang eine der größten Herausforderungen darstellt. Ein „mundgerechter“ Lautsprecher bietet hier für Sänger oder Schauspieler neue Möglichkeiten, verstärkte und unverstärkte Klänge zu verschmelzen.
Dabei muss der Lautsprecher zum Einen möglichst kompakt sein, um ihn in den Mundraum einsetzen zu können, zum Anderen muss er leistungsstark genug sein, um klanglich präsent zu sein. Diese beiden Kriterien widersprechen sich in gewisser Weise, so dass in der Entwicklung eine Vielzahl von Lautsprechern getestet und von denen der beste Kompromiss schließlich eingesetzt wurde.
Ähnlich konzeptionierte Mundlautsprecher finden sich auch in der Arbeit des Komponisten Matthias Kaul, der seinen Mundlautsprecher unter anderem in dem Stück Silence Is My Voice (2005) für Stimme mit Mundlautsprecherzuspielungen einsetzt.
Für das Pilot-Stück von disembodied voice, das im Juni 2012 uraufgeführt wurde, wurden die hierfür entwickelten technischen Tools im Sinne des Forschungsprojekts in stark komprimierter Form konsequent in die Inszenierung eingearbeitet und auch die Technik selbst und der Umgang mit dieser auf der Bühne wurde in Szene gesetzt. Dies ist meiner Meinung nach ein wesentlicher Aspekt in der Arbeit mit technischen Geräten auf der Bühne, denn eine Bühne, vollgestellt mit Lautsprechern, Mikrofonen und Kabeln beeinflusst von vornherein die Wahrnehmung des Zuschauers – unabhängig davon, ob die Technik mit in das Geschehen einbezogen wird oder nicht.
An den richtigen Stellen eingesetzt bieten sich durch die Bearbeitung und Spatialisierung von Klang in Echtzeit so auch Möglichkeiten, inhaltliche Zusammenhänge neu zu strukturieren oder Betrachtungswinkel zu ändern. Ein besonders großes Potential offenbart sich meiner Meinung nach in mehrkanaligen, den Zuschauerraum umschließenden Systemen, die die Bühne und den Zuschauerraum akustisch vernetzen und zusammenführen – ganz im Sinne einer Weiterentwicklung des Gropiusschen Totaltheater Konzeptes.
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(41) Fotos: Florian Vitez