Seit der, von Adorno und Boulez, geforderten Notwendigkeit neuer Aufführungsorte in den 60er Jahren ist mittlerweile ein halbes Jahrhundert vergangen. Dennoch ist die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Aufführungspraxis zeitgenössischer Musik und ihrer Ästhetik nach wie vor nur ein Randthema im künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs. Die alten Gepflogenheiten des traditionellen Aufführungsaktes sind in Konzerten zeitgenössischer Musik allgegenwärtig.
Dennoch finden zum Teil Veränderungen und Annäherungen an andere Künste statt. Durch die Veränderung der Position des Interpreten im Gesamtgefüge, vom Reproduzenten zum Produzenten, wie sie Barthelmes beschreibt, wird der Musiker zum Performer. Auf diese Weise entsteht eine Einzigartigkeit der Aufführung, die eine Annäherung an die bildende Kunst, besonders an die Performancekunst bedeutet. Gleichzeitig verschiebt sich hier der Werkbegriff weg von der Partitur hin zur Aufführung. Hier finden sich wiederum Parallelen zum Theater, für das Max Herrmann bereits in den 20er Jahren forderte, eine Aufführung nicht „als Repräsentation oder Ausdruck von etwas Vorgängigem, Gegebenen (…) [anzusehen], sondern sie als eine genuine Konstitutionsleistung“(45) zu begreifen. Nicht nur die Aufführung selbst, sondern auch ihre spezifische Materialität wird demnach erst von den Handlungen aller, bei der Aufführung, Beteiligten hervorgebracht(46). Kagel hat dies mit seinem instrumentalen Theater sicherlich verwirklicht, aber auch Komponisten, wie Heiner Goebbels, dessen intermedial inszenierte Musiktheaterwerke zwischen Theater, bildender Kunst, Installation und Musik angesiedelt sind, geben ihren Werken eine Offenheit, durch die die Beteiligten ein wesentlicher Teil der künstlerischen Gesamtkonstruktion werden(47).
Gerade in der elektroakustischen Musik stecken viele Möglichkeiten eine Neu- und Umgestaltung des Raumes, wie sie Piscator und Gropius mit ihrem Totaltheaterkonzept für das Theater planten, auch in konventionellen Aufführungsräumen umzusetzen. Der Bühnenraum und die Bühnentiefe beispielsweise können durch Spatialisierung auch im Zuschauerraum abgebildet werden und auf diese Weise Bühne und Zuschauerraum miteinander verschmelzen. Die Entkopplung von Klangerzeugung und Klangsteuerung schafft außerdem auch neue Möglichkeiten, „magische“ Klangsituationen zu schaffen und Klangsteuerung und -erzeugung als Mittel einer Inszenierung zu nutzen, so wie Szenographie und Beleuchtung immer schon als solche genutzt werden. Der Werkbegriff verschiebt sich nicht nur durch den „Musikperformer“, sondern auch durch den Einsatz von Technik, denn neben der Partitur beinhalten auch Audio- und Videodateien sowie weitere Daten Informationen für die Aufführung des Werkes.
Das Modell zur Ästhetik der Aufführungspraxis elektronischer bzw. elektroakustischer Musik von Marko Ciciliani, das von mir in 2.3. Die Rolle des Interpreten ausführlich beschrieben worden ist, gibt meiner Meinung nach gute Aufschlüsse über die Wahrnehmung und Gewichtung der verschiedenen aufführungsrelevanten Parameter, auch wenn es, wie bereits erwähnt, szenographische Elemente wie Licht, Bühnenbild oder Kostüme ausklammert.
In meiner eigenen Arbeit als Komponist habe ich mich intensiv mit der Inszenierung von Musik auseinandergesetzt. Für mich steht das visuelle Erlebnis eines Konzertes gleichberechtigt neben dem auditiven. Eine strikte Trennung zwischen dem sogenannten „Musiktheater“ und einem „konventionellen“ Konzert halte ich für schwierig, da jede Konzertsituation etwas performatives, theatralisches innehat.
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(45) Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, S. 54f.
(46)Vgl. Ebda. S. 54f.
(47) Vgl. Komponieren im Raum: Installation vor Ort. Helene Varopoulou in:Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung; Hrsg. Wolfgang Sandner; Henschel Verlag, Berlin, 2002; S. 131.